"Mehrfach", erwiderte Lou dem jungen Mann. "Allerdings auch von unterschiedlichen Personen. Ich fürchte, dass das auch in Zukunft immer wieder vorkommen wird. Immerhin ist das ein Klischee, das auch gerne und oft in Filmen, Serien, Büchern und so weiter genutzt wird." Dementsprechend würde es vermutlich auch ein Klischee bleiben und das bedeutete eben auch, dass es weiter genutzt werden würde. "Das ist ziemlich wahrscheinlich, wenn du mich fragst", kommentierte Lou anschließend Ethans andere Aussage. "Immerhin betrifft das ja nicht nur uns beide, sondern auch die anderen zwei."
"Mehrfach?", wiederholte Ethan skeptisch und schüttelte anschließend den Kopf. "Falls ich das jemals sagen sollte, hast du hiermit die offizielle Erlaubnis, mich an das aktuelle Gespräch zu erinnern - und somit daran, wie sinnfrei dieses Klischee eigentlich ist." Als sie die beiden anderen ansprach, runzelte Ethan leicht die Stirn, was in der Dunkelheit unter Garantie nicht zu erkennen war. Über Holly ließ sich durchaus diskutieren, aber Ethan sah den Idioten definitiv nicht als Freund an. Es lag ein himmelweiter Unterschied zwischen dem Idioten und Lou. "Dann bin ich gespannt darauf, so etwas zu beobachten", merkte er an, ohne zu genau auf Lous Aussage einzugehen.
"Warum so überrascht?", meinte Lou ein wenig verwundert. "Das ist jetzt nicht so, dass es häufig passiert, aber gelegentlich kommt das durchaus vor. Allerdings erinnere ich dich gerne an dieses Gespräch, falls das nötig sein sollte. Bei meinem aktuellen Wissenstand halte ich das aber für unwahrscheinlich. Dafür bist du zu umsichtig." Lou hatte generell den Eindruck, dass Ethan sehr umsichtig war. Er schien niemandem auf die Füße treten zu wollen und der Gedanke, dass er irgendwie unhöflich sein konnte, missfiel ihm auch ganz eindeutig. Lou mochte diesen Charakterzug tatsächlich an ihm. Sie wusste, dass man darüber diskutieren konnte, dass Ethan vielleicht ein wenig übervorsichtig war, aber sie war der Meinung, dass sich das geben würde, sobald er ein paar Erfahrungen gemacht hatte. Generell nahm Lou auch an, dass Ethan durchaus ein eher fürsorglicher Mensch war, aber das kam nicht gut zur Geltung, weil er schlicht nicht wusste, wie er mit anderen umgehen sollte. Ihr tat es durchaus Leid, dass man ihm beigebracht hatte, Leute auf Distanz zu halten, statt ihn den sein zu lassen, der er nunmal war. Allerdings gab es einen Hoffnungsschimmer, denn schließlich war sie bei ihm, nach Mitternacht, weil Ethan sich Hilfe gesucht hatte. Und zwar bei jemandem, den er potentiell als Freund betrachtete. Und Lou machte das definitiv froh und auch ein kleines bisschen stolz. "Soll ich dich auf solche Gelegenheiten hinweisen oder willst du sie für dich selbst bemerken?", wollte Lou anschließend von ihm wissen.
"Ich muss zugeben, ich frage mich gerade, von wem du das Klischee gehört hast", merkte er an, "Immerhin hast du selbst gesagt, dass es irgendwie unangenmessen ist." Er schnaubte amüsiert. "Und mit 'umsichtig' meinst du vermutlich über-höflich." Er winkte ab, ging aber stark davon aus, dass er richtig lag. Jetzt, da er mehr Kontakt mit anderen Leuten hatte, bemerkte er selbst, dass er prinzipiell keine Ahnung davon hatte, wie zwischenmenschliche Dinge wirklich funktionierten. "Falls ich etwas ganz Spektakuläres übersehe, kannst du mich gerne darauf hinweisen", fügte er noch hinzu.
"Von verschiedenen Leuten. Von mittlerweile ehemaligen Mitschülern meistens... Also männlich wie weiblich. Eins der Mädels war sogar regelrecht überzeugt davon, dass die Jungs einfach zu dumm sind, um uns zu verstehen. Ich hab mich auch mal mit Alois deswegen gestritten, als der es sich einfach machen wollte", erzählte Lou und zuckte anschließend mit den Schultern. Sie vermutete, dass das schlicht in der Natur der Sache lag. "Und nein. Mit umsichtig meine ich umsichtig. Meinetwegen auch rücksichtsvoll, denn das stimmt auch. Dass du besonders höflich bist, weiß ich ja, aber hat damit nichts zu tun. Außerdem ist es eine sehr positive Eigenschaft, umsichtig zu sein, wenn du mich fragst", erklärte sie ihm. Natürlich hoffte Lou, dass Ethan das auch so sah und es nicht auf irgendetwas anderes schob, weil das wirklich schade gewesen wäre. "Was ganz Spektakuläres?", wiederholte das Mädchen und schnaubte anschließend. "Klar, mach ich. Ist gar kein Problem." Wenn man davon absah, dass Lou keine Ahnung hatte, was in diesem Kontext als spektakulär zu bezeichnen war.
"Es ist irgendwie seltsam, dass Frauen das für sich nutzen", merkte Ethan skeptisch an. "Dass Männer das als Ausrede nehmen, okay, aber bei Frauen wirkt das... irgendwie seltsam." Er schüttelte den Kopf und überlegte, ob er nachhaken sollte, was Alois anging, aber Lou reagierte meist irgendwie niedergeschlagen auf das Thema, also ließ er es. "ein Grund mehr, es als Scherz zu verwenden." Lous Erklärung bezüglich der Umsichtigkeit war sogar irgendwie nachvollziehbar. "Vermutlich ist das ein Nebeneffekt von meiner Erziehung", schlug Ethan vor, weil das am naheliegendsten war. "Zumindest gehe ich davon aus, dass da ein Zusammenhang besteht."
"Das erschließt sich mir auch nur bedingt, wenn ich ehrlich bin. Ich vermute, dass das bei manchen eine Art Überlegenheitsgefühl auslöst. So von wegen Frauen sind ja komplex und vielschichtig und sowas, während Männer simpel und platt sind. Zumindest ist das meine Theorie. Aber da wir beim Thema Scherze sind, kann ich mir in der Hinsicht gut vorstellen, dass es sehr lustig wäre, so eine Frau auflaufen zu lassen", überlegte Lou nach Ethans Aussage. Sie fand es sehr angenehm, dass ihm dieses Konzept fremd war und er es deshalb direkt als lächerlich abtat. "Ist anzunehmen", kommentierte Lou Ethans Aussage zu seiner Erziehung. "Immerhin sollte Erziehung für sowas ja auch da sein. Weißt schon, Werte vermitteln und Moral und solche Sachen beibringen."
"Inwiefern auflaufen lassen?", hakte Ethan nach, weil er sich tatsächlich nicht vorstellen konnte, wie genau Lou das jetzt gemeint hatte. Er seufzte. "Und was Erziehung angeht, weiß ich vermutlich besser Bescheid als jeder andere", fügte er dann hinzu. "Manchmal frage ich mich, wie es gewesen wäre, woanders aufzuwachsen. In einer normalen Familie vielleicht."
"Zum Beispiel in dem Sinn, dass so eine Frau sich mal mit jemandem auseinandersetzen muss, der alles andere als simpel ist. Am lustigsten wäre es eigentlich, wenn dabei rauskommt, wie oberflächlich sie selbst eigentlich ist", meinte Lou. "Sowas hab ich bisher nur mal in einem Film gesehen, was eigentlich sehr schade ist. Aber dafür war es sehr unterhaltsam." Bei Ethans anderer Bemerkung seufzte Lou kurz. "Das ist eine gute Frage", musste sie ihm zugestehen. "Das hab ich mich auch schon gefragt. Aber dann bleibt die Frage, was eigentlich normal ist. Eine Familie, in der die Eltern beruftätig sind? Oder wo die Mutter zu Hause ist und den Haushalt schmeißt? Was ist mit Alleinerziehenden?" Lou seufzte und zuckte mit den Schultern. So genau wusste sie das auch nicht. "Früher hab ich mir oft gewünscht, dass ich einfach meine Eltern öfter sehen kann. Dass sie am Abend wie die meisten anderen Eltern zu Hause sind. Ich fühl mich jetzt nicht unnormal, weil das nicht der Fall war. Allerdings muss ich zugeben, dass ich mit meiner Oma großes Glück gehabt habe. Ohne sie wäre ich womöglich so ein Klischee-Einzelkind geworden oder so. Sie hat mir jedenfalls viel beigebracht", erzählte das Mädchen. "Ich finde übrigens nicht, dass du unnormal bist. Um das mal zu erwähnen. Ich finde dich jedenfalls voll in Ordnung. Was soll's, dass du einige Erfahrungen bisher nicht machen konntest? Du bist ja dabei, die nachzuholen. Und ich bezweifle ganz stark, dass das etwas daran ändern wird, dass du ein echt lieber Kerl bist."
"Klingt wirklich unterhaltsam", bestätigte Ethan und sah anschließend zu Lou, als diese seufzte. "Na ja, ich würde sagen, es gibt vielleicht nicht die normale Familie schlechthin, aber es gibt Familien, die recht eindeutig und recht weit von der Norm abweichen. Meine beispielsweise. Und deine vermutlich auch irgendwie - obwohl du zumindest auf eine normale Schule gegangen bist." Er schnaubte amüsiert. "Und was genau bedeutet jetzt unter Freunden 'lieber Kerl'?"
"In Bezug auf unsere Familien, hast du wohl recht", stimmte Lou Ethan zu. "Was meine Schule angeht, stimmt das allerdings nur bedingt. Ich bin nämlich auf eine Privatschule gegangen. Das war jetzt keine superteure Eliteschule, aber man musste schon Eltern mit einem guten Job haben, um sie sich leisten zu können. Der Hauptunterschied ist wahrscheinlich, dass durch das zusätzliche Geld bessere Unterrichtsmaterialien gestellt werden können und man teurere Ausflüge machen kann. Außerdem waren unsere Klassen kleiner. Zumindest hat das mal ein Lehrer erzählt. Und ich musste eine Schuluniform tragen. An öffentlichen Schulen darf man normalerweise anziehen, was man will." Lou hob die Schultern. Sie wusste nicht genau, wie groß der Unterschied nun eigentlich gewesen war, aber bisher hatte es keine Rolle gespielt und sie bezweifelte auch, dass das jemals eine spielen würde. Auf Ethans Nachfrage hin, war Lou allerdings amüsiert. "Das gleiche wie unter Nicht-Freunden", behauptete sie mit einem Grinsen. "Es fasst im Grunde zusammen, dass du rücksichtsvoll, höflich und freundlich bist. Und ich würde noch generell sympathisch dazu zählen."
"Trotzdem ist es etwas völlig anderes als Einzelunterricht mit diversen Privatlehrern", erwiderte Ethan mit einem halbherzig unterdrückten Seufzen. "Mir wäre jede Privatschule lieber gewesen als der Privatuntericht. Selbst auf einer elitären Schule sind immerhin andere Leute. Im Anwesen sind außer der Familie lediglich die Lehrer und die Angestellten." Der Anflug eines Lächelns trat auf sein Gesicht. "Und deine Erklärung nehme ich jetzt einfach als Kompliment."
"Dann geh bloß nicht zurück", erwiderte Lou durchaus energisch. "Zumindest nicht einfach so. Du hast das Recht zu sagen, dass du so nicht leben willst und vor allem musst du das auch nicht." Allerdings musste er sich dafür seinem Vater gegenüber durchsetzen und Lou war klar, dass das bestimmt nicht einfach werden würde. "Nimm es ruhig als Kompliment, denn es war eins. Ich weiß jedenfalls definitiv zu schätzen, dass du so bist", versicherte sie dem jungen Mann.
"Ich soll nicht zurück?", hakte Ethan irritiert nach. "Ich werde zurück müssen. Früher oder später." Er schnaubte. "Mit den Abschlüssen, die ich habe, kann ich nur das machen, was mein Vater tut - und das entweder mit ihm auf meiner Seite oder mit ihm gegen mich. Ich habe überhaupt keine Option in dieser Sache." Ethan seufzte schwer und schloss einen Moment lang die Augen, wobei er versuchte, seine Unzufriedenheit über diese Erkenntnis herunter zu schlucken. "Danke jedenfalls."
"Und was hält dich davon ab, einfach andere Abschlüsse zu machen?", erwiderte Lou. "Ich weiß, dass das Zeit kostet und alles, aber das ist immer noch besser als etwas zu tun, das man gar nicht tun möchte. Hast du schon mal daran gedacht, dich in einer Uni einzuschreiben? Dann kannst du theoretisch etwas ganz anderes machen und da kann dein Vater so einflussreich sein, wie er will. Er kommt auch nicht überall ran." Natürlich war das alles leichter gesagt als getan, das war auch Lou klar. Allerdings war sie der Meinung, dass es überhaupt erst ausgesprochen werden musste. Die meisten Dinge fingen schließlich mit einem Gedanken an, den man gerne umsetzen will.