Irgendwie hatte Ethan nicht das Gefühl, als würde seine Überforderung in absehbarer Zeit nachlassen. Im Gegenteil. Je mehr die beiden sagten, desto ratloser wurde er, was irgendeine Antwort anbelangte. "Ich bin nicht gut in sowas", merkte Ethan schließlich an, weil ihm nichts Besseres einfiel. "Ich weiß nicht, was jetzt... angemessen wäre." Woher auch? Er hatte sich nie mit irgendetwas Vergleichbarem auseinandersetzen müssen und er bezweifelte, dass das bei seinen Eltern anders aussah. Gut, vermutlich waren die Angestellten und die Privatlehrer in dieser Hinsicht bewanderter, aber er war gar nicht erst auf die Idee gekommen, sie nach etwas in dieser Richtung zu fragen.
"Völlig egal, was angemessen ist", meinte Holly und machte eine wegwerfende Handbewegung. "Außer vielleicht uns zu sagen, was du denkst und was du möchtest. Das kann man vielleicht als angemessen bezeichnen, wenn man unbedingt will." "Im Grunde hast du das Erste sogar schon getan. Zuzugeben, dass man solche Dinge nicht gut kann, erfordert bereits einiges an Ehrlichkeit", gab Lou zu bedenken. "Ein Anfang wäre zum Beispiel die Frage, was du über das bessere Kennenlernen denkst." "Lou hat recht. Manchmal hat man mit Menschen zu tun, die man gar nicht so genau kennen will", stimmte die junge Farmerin zu und musste unwillkürlich an Jakob denken. Sie wusste jedenfalls nicht, was sie von dem jungen Mann halten sollte. Absolut nicht. "Uns ging es vor allem darum, dass du weißt, dass uns deine Meinung und deine Empfindungen nicht egal sind. Aber wir sind auch nur Menschen und als solche machen wir natürlich auch Fehler. Und darum ist es schon ziemlich wichtig, dass wir über sowas auch reden", fügte Lou noch hinzu.
Ethan seufzte schwer. Irgendwie bezweifelte er, dass die beiden auch nur ansatzweise verstanden, dass er beim besten Willen keine Ahnung hatte, was er tun sollte. Um zu verhindern, dass er sinnlos irgendwelche Satzbruchstücke von sich gab, schwieg Ethan einige Augenblicke und versuchte dabei, so etwas wie eine Lösung oder Antwort zu finden. Selbstverständlich blieb dieser Versuch vergeblich. "Ich weiß nicht, was ich möchte", sagte er dann und ärgerte sich darüber, dass er fast ein wenig hilflos klang. "Jedenfalls nicht in dieser Hinsicht." Er hob ratlos die Schultern. "Es ist nicht so, als hätte ich jemals vor der Wahl gestanden, irgendwen kennenzulernen." Er seufzte frustriert, weil er sich so dämlich vorkam wie lange nicht mehr. "Ich weiß es nicht", wiederholte er dann unzufrieden. "Ich habe keine Ahnung."
Sowohl Holly als auch Lou hielten für einen Moment inne. Für beide war deutlich geworden, dass Ethan sich wirklich ahnungslos fühlte und für einen Moment war diese Erkenntnis doch recht überwältigend. Die beiden Frauen warfen sich einen kurzen Blick zu, aber zumindest Holly war doch ein wenig überfordert. Dementsprechend war es Lou, die sich zuerst wieder Ethan zuwandte. "Das ist okay", versicherte sie ihm und Holly nickte zumindest zustimmend. "Betrachte es einfach als deine Chance, es herauszufinden. Ich denke für den Anfang ist es okay, wenn wir uns darauf einigen, dass wir einander direkt sagen, wenn uns etwas stört." "Klingt in meinen Ohren gut", gab die junge Farmerin zu. "Der Rest gibt sich bestimmt von selbst. Menschen sind eigentlich dafür gemacht, um sich mit anderen auseinanderzusetzen." "Vielleicht können wir ja trotzdem das eine oder andere so unternehmen? So wie das Kartenspielen, meine ich", fragte Lou noch vorsichtig an. "Ich fand das eigentlich ganz schön."
Ethan war sich nicht sicher, ob das wirklich eine gute Idee war. Bisher hatte man ihm sehr eindeutig zu verstehen gegeben, dass es im Normalfall die beste Entscheidung war, einfach nichts zu sagen, was die eigene Meinung anging. Es war irgendwie seltsam, das spontan komplett umzuändern. Äußerst seltsam. Und dennoch schien es irgendwie... normal zu sein. Zumindest, wenn man den beiden glauben konnte. Trotz oder vielleicht wegen all der Privatstunden musste sich Ethan eingestehen, dass er nicht die leiseste Ahnung von so etwas hatte. "Okay", sagte er schließlich, wenn auch ein wenig skeptisch. "Ich... würde sagen, das ist in Ordnung."
"Super", erwiderte Lou mit einem Lächeln, welches auch Holly teilte. Letztere war wirklich erleichtert darüber, dass das Gespräch bisher so gut verlaufen war. "Wo wir aber gerade bei Meinungen sind... Was machen wir mit Jakob?", erkundigte sich die junge Farmerin. "Also außer ihn am liebsten auf den Mond zu schießen." "Ich find ihn anstrengend", meinte Lou mit einem Seufzen. "Ich denke, dass er im Grunde nett ist, aber ansonsten... Ansonsten ist er so furchtbar unreif!" "Zumindest hat er guten Willen bewiesen, als er sich für die Polizei gemeldet hat. Ich bin aber auch nicht sicher, ob das ausreicht. Ich bin aber zumindest bereit, ihm eine Chance zu geben. Vorhin hat er sich wirklich Mühe mit seiner Entschuldigung gegeben", erzählte Holly.
Ethan seufzte schwer. Die beiden konnten nicht wissen, dass sich der Idiot nicht aus gutem Willen heraus freiwillig gemeldet hatte. Und so gerne Ethan ihn auch losgeworden wäre, war da die Geschichte mit der Telefonnummer - irgendwie hielt er es für sinnvoll, die anderen zeitnah darüber zu informieren. Allerdings wohl eher nicht vor irgendeiner Aussprache. Das war vermutlich sinnvoller. "Er ist anstrengend", bestätigte Ethan, obwohl er davon ausging, dass das auf nahezu alle Menschen zutraf. "Und ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wie sich die Geschichte klären lässt." Er schüttelte düster den Kopf. "Zumindest nicht nach dem Kommentar im Fahrstuhl."
"Jakob ist unsensibler als ich. Und das will was heißen", meinte Holly. "Ich weiß nicht, ob es dir hilft, aber ich würde ihm einfach klar sagen, wie beschissen sein Verhalten war. Mit einer kurzen Erklärung. Vorhin hat das erschreckend gut geklappt." "Er hat dir vorhin auf die Brust gestarrt. Ich bin nicht sicher, ob man das vergleichen sollte", gab Lou zu bedenken. "Aber verdient hat er es so oder so. Und es ist ganz sicher nicht verkehrt, wenn Ethan seinem Ärger mal Luft macht", erwiderte die junge Farmerin, was Lou allerdings zu einem Augenrollen verleitete. "Hey, haben wir gesagt, dass wir ehrlich sein wollen, oder nicht?" "Ja, gut. Da kann ich wohl nicht widersprechen", musste Lou nachgeben und sah dann wieder zu Ethan. "Deine Entscheidung, aber es wäre tatsächlich ein Anfang. Raus ist bei sowas in der Regel besser als rein."
Diese kurze Diskussion war irgendwie merkwürdig und das Ergebnis für Ethan in etwa so unbefriedigend wie das bisherige Gespräch. Das Problem war, dass er zwar wusste, wie er argumentativ darlegen konnte, dass irgendetwas nicht in Ordnung gewesen war, aber wie man jemandem möglichst eindrucksvoll oder lautstark vermittelte, dass irgendetwas absolut unangebracht gewesen war, war eine ganz andere Frage. "Vielleicht reden wir einfach normal mit ihm", schlug Ethan vage vor, weil er bezweifelte, dass alles andere irgendeinen nennenswerten Effekt haben würde. Der Idiot würde ihn ohnehin nicht ernst nehmen, wenn er versuchen würde, ihm etwas Derartiges zu sagen.
"Ich glaub nicht, dass das viel bringt", erwiderte Holly direkt. "Unser lieber Jayjay kann den einen oder anderen Denkzettel gebrauchen. Er soll ruhig merken, dass er Mist gemacht hat. Du hast alles Recht, um wütend auf ihn zu sein. Gerade weil er dir eigentlich ziemlich viel verdankt. Vor allem seitdem er so clever gewesen ist, sich sein gesamtes Geld klauen zu lassen." "Ich finde auch, dass ihm ein wenig mehr Rücksicht gut tun würde", bestätigte Lou in ihrem üblichen versöhnlichen Tonfall. "Mach dir einfach nicht so viele Gedanken, wie du höflich bleibst. Und wenn du findest, dass er dir zum Beispiel eine Entschuldigung schuldet, dann verlang sie", erklärte Holly, weil sie den Eindruck hatte, dass Ethan nicht wusste, wie er das Problem angehen sollte.
Natürlich ließen die beiden es nicht gut sein, das wäre wohl auch zu einfach gewesen. Ethan unterdrückte ein weiteres Seufzen. Ja, er war wütend und vermutlich war es die logische Reaktion, seinem Ärger Luft zu machen, aber er war sich äußerst sicher, dass der Idiot das nicht einmal ansatzweise ernstnehmen würde. Vermutlich würde er es sogar lustig finden und das wiederum wollte sich Ethan eigentlich ersparen. Andererseits war er definitiv frustriert von dem Verhalten des Idioten. Äußerst frustriert. "Wahrscheinlich wird er das Ganze eher unterhaltsam finden, aber... von mir aus", willigte Ethan schließlich ein. Irgendwie ging er davon aus, dass er diese Entscheidung bereuen würde.
„Wenn er deinen Ärger nicht ernst nimmt, dann hat Jakob mehr als ein Problem. Sowas ist nämlich nicht akzeptabel“, versicherte Lou dem jungen Mann. „Genau das“, stimmte Holly zu. „Ich demonstriere gerne, was ich in so einem Fall tue.“ „Holly!“, kam es mahnend von Lou. „Was denn? Ich will ihn ja nicht umbringen oder so“, verteidigte sich die junge Farmerin. Lou seufzte tief und schüttelte nur den Kopf. „Willst du das mit Jakob gleich erledigen?“, fragte sie dann an Ethan gewandt.
Ethan war sich nicht sicher, was er von dieser Aussage halten sollte. Und er war nicht sicher, ob er wirklich wissen wollte, was in der Hotel-Lobby vorgefallen war, während Lou und er noch im Regen gewesen waren. Gut, die Kopfnuss hatte er miterlebt, aber das hatte schon gereicht. "Ja", erwiderte er dennoch mit einem kurzen Blick auf die Uhr. "Die halbe Stunde ist sowieso fast um." Er zögerte einen Moment und hob anschließend die Schultern. "Und... danke für die... Klärung."
"Danke, dass du uns zugehört hast", erwiderte Lou mit einem Lächeln. "Und dafür, dass du's mit uns versuchst", fügte Holly hinzu. Nachdem das geklärt war, fühlte sie sich jedenfalls besser. Auch Lou war erleichtert, dass das nun geklärt war. Sie hoffte nur, dass Jakob sich einsichtig zeigen würde.
Ethan nickte lediglich, um sich eine Antwort zu ersparen. Er hätte ohnehin keine gefunden. Irgendwie begann er zu ahnen, dass er noch eine ganze Menge zu lernen hatte, was diese Art von Gesprächen anging und er war sich nicht sicher, ob das wirklich sinnvoll war. "Gehen wir zu Jakob", entschied er schließlich, um es hinter sich zu bringen. Es hatte schließlich keinen Zweck, die Geschichte mit dem Idioten hinaus zu zögern.