"Vielleicht sollten wir anfangen, eine Liste zu führen", schlug Ethan scherzhaft vor. "Die zehn besten Spitznamen oder so." Die Idee war so albern, dass sie schon fast wieder gut war, allerdings musste Ethan zugeben, dass er sich zumindest spontan nicht daran erinnerte, welche Spitznamen sie bei der ersten Gelehenheit benutzt hatten. Als Lou erwähnte, dass sie ihn gerne früher kennengelernt hätte, stockte er einen Moment, aber glücklicherweise fuhr Lou fort und zählte auf, weshalb ebendies nicht hatte klappen können. Es freute ihn irgendwie, dass sie so darüber dachte. "Ja", stimmte er dann zu. "Ich meine... die einzigen Leute, die ich in den letzten Jahren kennengelernt habe, waren iregendwelche Geschäftsleute und deren Familien auf entsprechenden Geschäftsessen." Er hob die Schultern und lächelte. "So hatte die ganze Freiwilligensache doch wenigstens schonmal etwas Gutes."
„Wenn irgendwas kommt, was Roseliablättchen den Rang streitig machen könnte, dann sollten wir dass vielleicht wirklich tun“, meinte Lou amüsiert und lauschte dann dem Rest von Ethans Erzählung. Irgendwie war es noch immer schwierig, dass so sein Leben ausgesehen hatte. Immer wenn Ethan davon erzählte, klang es ziemlich... trist und eintönig. „Und die hatten keine Kinder in deinem Alter? Oder durftest du dich nicht wirklich mit wem unterhalten?“, fragte sie nach, weil sie es sich nur schwer vorstellen konnte. „Und nur fürs Protokoll: Wenn wir uns früher kennengelernt hätten, hätte ich dir definitiv meine Oma vorgestellt. Sie hätte dich bestimmt gemocht.“
"Doch schon, aber solche Anlässe waren immer sehr, sehr steif", erklärte Ethan mit einem erneuten Schulterzucken. "Niemand konnte und wollte es sich erlauben, mehr als nur den höflichen Smalltalk zu halten. Und ganz abgesehen davon - selbst wenn ich mich mit irgendwem angefreundet hätte, hätte ich den- oder diejenige sowieso kaum gesehen." Bei der Erwähnung von Lous Oma lächelte er. "Ich hätte sie gerne kennengelernt, soweit ich das bisher mitbekommen habe, scheint sie dir ja sehr wichtig gewesen zu sein."
„Diese Essen sind auch nur da, um den Schein zu wahren, oder?“, fragte Lou nach, schüttelte aber den Kopf. Wenn man sich zum Essen traf, dann sollte es ihrer Meinung nach entweder rein geschäftlich sein, was bedeutete, dass man seine Familie heraushielt, oder es war geselliger und dann konnte man sich auch richtig mit anderen beschäftigen. „Oma hätte dich gemocht“, meinte Lou bestimmt. „Es hätte ihr gefallen, dass du höflich bist und auch, dass du dich um andere kümmerst.“ Lou seufzte kurz. Es war traurig und schade, dass so viel in ihrem Leben passierte und sie es ihrer Großmutter nicht mehr erzählen konnte. „Von meinem Gefühl her hat Oma mich mehr aufgezogen als meine Eltern. Ich weiß, das ist wahrscheinlich so nicht richtig, aber Oma war da, wenn meine Eltern gearbeitet haben... Und das war nie wenig. Meine Eltern haben viel versprochen und wenig wirklich gehalten... Oma hat mich verstanden, während ich vor allem mit Lyn oft gestritten habe... Das ist im Moment schwierig. Ich will natürlich nicht, dass Lyn was passiert, jetzt wo sie verschwunden ist und ich mach mir auch Sorgen, aber irgendwie nicht so viele, wie ich mir mir machen sollte. Müsste es mir nicht näher gehen? Verdränge ich es vielleicht? Ich weiß es echt nicht... Ich glaube, Oma hätte das wahrscheinlich erklären können, aber sie ist nicht mehr da und jetzt muss ich halt sehen, wie ich meine Empfindungen sortiere“, erzählte Lou, wobei sie sich fragte, wann das Gespräch wieder so ernst geworden war.
"Ich weiß, was du meinst", erwiderte Ethan mit einem Schulterzucken. "Mein Vater hat sich nur mit mir beschäftigt, wenn es um irgendwelche geschäftlichen Dinge ging und meine Mutter... sagen wir, sie ist zu sehr damit beschäftigt, ihren Reichtum zu genießen. Im Endeffekt haben beide meine Erziehung und Bildung den Privatlehrern überlassen." Er winkte ab. "Streng genommen habe ich stellenweise generell wenig von meinen Eltern gesehen." Lous Kommentar zu den Sorgen bezüglich ihrer Mutter quittierte Ethan mit einem Seufzen. "Weißt du, selbstverständlich würde ich auch nicht wollen, dass meinen Eltern etwas passiert, aber letztlich... habe ich mit ihnen so wenig zu tun, dass es mich nicht so sehr mitnehmen würde." Er schüttelte den Kopf. "Und du machst dir durchaus Sorgen - du schaust doch auch jeden Tag die Nachrichten und viel mehr kannst du einfach nicht tun."
„Tim hat wenigstens ein schlechtes Gewissen, weil er so wenig Zeit hat. Ich glaube auch, dass ich ihm wichtig bin, er war zum Beispiel sehr erschrocken, als ich damals überfallen worden bin. Aber auch er hat mich oft genug hängen lassen... So ist das wohl mit Prioritäten“, meinte Lou ein wenig niedergeschlagen, ehe sie die Schultern hob. Tim liebte seinen Job und definitiv auch seine Frau, aber Lou hatte das Gefühl, dass sie nicht unmittelbar dazu gehörte, sondern in der Reihenfolge erst danach kam. „Das soll nicht heißen, dass ich glaube, dass ich Lyn egal bin, aber sie ist definitiv das, was man eine Karrierefrau nennt. Du weißt schon, die Art von Frau, die lieber arbeitet und Geld verdient und in der Regel keine Kinder bekommt“, führte Lou weiter aus, wobei sie darauf verzichtete, ihre Vermutung zu äußern, dass sie ein Unfall gewesen war. „Wir waren selten einer Meinung, also wenn wir uns gesehen haben, aber es war jetzt auch kein Alptraum mit ihr im selben Zimmer zu sein. Aber es ist wirklich traurig, dass die beiden trotzdem mehr Eltern sind als deine... Um ehrlich zu sein, deine Erklärung klingt nicht mal danach, dass deine Eltern auch wenigstens mit einander beschäftigen...“ Das war alles irgendwie falsch. Lou wusste, dass normale Familien so nicht funktionierten, aber es musste wohl Ausnahmen wie sie und Ethan geben, um das zu verdeutlichen. „Und klar guck ich die Nachrichten“, bestätigte das Mädchen auf Ethans letzte Aussage hin, „aber sind wir mal ehrlich... Die Nachrichten würden eher bringen, wenn ihr was passiert wäre... Tim meinte zwar, dass es gut möglich ist, dass Lyn die Typen damals verfolgt hat, aber... wenn das der Fall ist, müsste sie sich nicht inzwischen mal bei irgendwem gemeldet haben? Gerade bei Tim, der sie mit allem möglichen Kram versorgen könnte... Ich verstehe es nicht... und jetzt, wo wir wissen, wie die Polizei stellenweise arbeitet und wie skrupellos die Organisation ist...“ Lou ließ ihre Ausführung bewusst unbeendet. Sie wollte nicht einmal denken, was diese Leute Lyn abgetan haben konnten. Nicht, nachdem sie Johnson gesehen hatten.
"Na ja, ich kenne es nicht anders, von daher habe ich mir nie groß Gedanken darüber gemacht", antwortete Ethan. "Klar wusste ich aus Filmen oder Literatur, dass Familien anders funktionieren, aber dadurch, dass ich das nie selbst erlebt habe, war das für mich immer sehr abstrakt. Und meine Eltern haben geheiratet, weil es eine lukrative Partie für beide Seiten war." Er zuckte mit den Schultern. "Aber deine Situation ist da wohl auch nur unwesentlich besser." Als Ethan allerdings den Eindruck bekam, dass Lou sich doch in ihre Sorgen vertiefte, legte er ihr eine Hand auf die Schulter. "Deine Mutter ist eine bekannte Reporterin - wenn ihr irgendwer etwas antun wollte, würde man davon hören. Ich halte ehrlich gesagt die Theorie von deinem Vater für wahrscheinlicher, ansonsten hätte es doch längst Lösegeldforderungen gegeben. Vielleicht ist sie irgendwie undercover unterwegs und will es nicht riskieren, irgendwen zu kontaktieren. Wenn du sagst, dass sie eine Karrierefrau ist, würde das doch passen."
„Eine lukrative Partie für beide Seiten?“, wiederholte Lou und sah etwas kritisch drein. „Allein die Formulierung lässt mich schaudern.“ Wenigstens liebten sich ihre Eltern und waren nicht wegen irgendwelcher Abmachungen zusammen. Auch wenn es vermutlich Vorteile für sie hatte, verheiratet zu sein und zusammen zu arbeiten. „Du hast schon irgendwie recht... Es würde gut zu ihr passen. Wenn es wirklich so ist und auch funktioniert, dann ist das vermutlich die Story des Jahrhunderts. Zumindest aus journalistischer Sicht... Aber es wäre auch krass. Da wird jemand ermordet und sie... sie verfolgt die Täter einfach so“, meinte Lou und seufzte abermals. Je mehr sie darüber nachdachte, desto mehr fragte sie sich, ob sie sich nun zu viele oder doch zu wenig Sorgen machte. Sie griff kurz nach Ethans Hand, die auf ihrer Schulter lag und drückte diese kurz. Es tat ihr gut, dass er da war, während sie versuchte, aus dich selbst schlau zu werden. „Danke, dass du da bist“, meinte das Mädchen schließlich. „Es hilft wirklich.“
"So funktioniert das unter Großaktionären", kommentierte Ethan düster. "Ich könnte mir auch deutlich Besseres vorstellen, aber die meisten handhaben es so." Er bemerkte, dass Lou nach seiner Hand griff, sodass er sie für den Moment auf ihrer Schulter liegen ließ. "Das ist in der Tat eine halsbrecherische Aktion, aber ich gehe davon aus, dass deine Mutter weiß, was sie tut", erwiderte er dann auf ihre Aussage hin, bevor er ihr ein Lächeln schenkte. "Und ich helfe gerne, wenn ich kann."
„Ich erinnere mich, dass wir so ein ähnliches Gespräch schon mal hatten“, meinte Lou dann. Der Unterschied war nun, dass sie Ethan und seinen Hintergrund besser kannte. „Unabhängig davon, wie du und ich das vermutlich finden, aber... Wie genau läuft das? Wer käme denn für dich in Frage, wenn dein Vater doch der Großaktionär schlechthin ist? Sollst du Kate heiraten oder was?“ Lou schüttelte den Kopf, weil für sie das alles so absurd war. Leider aber war es für Ethan sehr real und das machte es irgendwie ziemlich bitter. „Und was Lyn angeht... Ich hoffe jedenfalls, dass es ihr gut geht. Zumindest kann sie sich theoretisch ganz gut wehren... Ob sie schon weiß, dass die Organisation und die AC im Grunde das gleiche sind? Das könnte problematisch sein, wenn man bedenkt, dass sie für ART arbei-“, meinte Lou, hielt aber abrupt inne. Gerade war ihr etwas aufgefallen, was ihr vorher definitiv entgangen war. „Der Typ, der damals ermordet wurde... Hattest du nicht erwähnt, dass er eigentlich entlassen werden sollte? Ist es dann nicht seltsam, wenn die AC ihn dann doch so... beseitigt hat?“, fragte sie den jungen Mann letztlich.
"Für meinen Vater wäre Kate mit Sicherheit die bestmögliche Option", bestätigte Ethan und schnaubte - zum einen, weil es absurd war und zum anderen, weil sein Vater vermutlich regelrecht jubiliert hätte, wenn er von einer gewissen Nacht erfahren hätte. "Aber für Arkwright wäre das eine schlechte Option. Abgesehen davon wäre in den Augen meines Vaters vermutlich die Tochter von irgendeinem anderen, halbwegs wichtigen Großaktionär am sinnvollsten. So kann man das Vermögen zusammenlegen." Ethan schüttelte den Kopf. Das war ein Thema, über das er sich definitiv keine Gedanken machen wollte. Er hatte wenig Lust, irgendwen des Geldes halber zu heiraten. Als Lou innehielt, sah er sie prüfend an und zog letztlich die Hand zurück. "Es wäre auch denkbar, dass er irgendwelche Informationen hatte und als er erfahren hat, dass er entlassen werden soll, hat er versucht, die AC zu erpressen", schlug er dann vor. "Dann wäre das eine grausame, aber logische Reaktion der AC."
„Ich muss nicht extra erwähnen, wie falsch ich das finde, oder? Also aus verschiedenen Gründen“, meinte Lou und schüttelte den Kopf. Sie würde vermutlich lachen, wenn es nicht so erbat wäre. „Ich frage gar nicht nach dem Grund, weshalb du für Kate keine gute Partie bist. Es hat garantiert irgendwelchen wirtschaftlichen Hintergründe.“ Bei Ethans Ausführung bezüglich des ermordeten Mannes, nickte das Mädchen allerdings. „Das passt auch gut zu dem, was wir ja inzwischen alles erfahren haben. Vor allem auch, dass sie es während dem Interview gemacht haben...“, meinte Lou daraufhin. Es war dasselbe Prinzip wie bei den ermordeten Chiefs. Allerdings frage sie sich unwillkürlich, ob ihre Eltern etwas gewusst hatten... Oder zumindest Lyn. Lou war sich nicht sicher.
"Für Arkwright ist vermutlich niemand gut genug", merkte Ethan mit einem Schulterzucken an. "Da müsste es im besten Fall schon jemand aus einem anderen Land mit einem ähnlichen Vermögen sein, ansonsten kann er ja nur Verlust machen. Ich meine, unser Geld beruht letztlich darauf, dass mein Vater Großaktionär bei der AC ist. Und die wiederum verdienen an den Aktien. Eine Hochzeit bringt ihnen nichts." Er nickte kurz, als Lou seine spontane Vermutung bestätigte. "Sehe ich auch so", fügte er hinzu und seufzte. "Ich hoffe, du hörst bald etwas von deiner Mutter."
„Klingt nach einer sehr kleinen Auswahl“, meinte Lou daraufhin. „Ich frage mich, ob Kate Riccardo dann geheim gehalten hat... Aber es ist anzunehmen, wenn du schon sagst, dass für Arkwright vermutlich niemand gut genug wäre.“ Sie fand den Gedanken, dass man nicht aus Liebe, sondern aus wirtschaftlichen Interesse heiratete, nicht nur befremdlich, sondern regelrecht abstoßend. „Ich hoffe auch, dass es bald ein Lebenszeichen von Lyn gibt“, antwortete Lou dann auf Ethans zweite Äußerung. „Ich sollte in absehbarer Zeit ohnehin versuchen, Tim zu erreichen, damit er weiß, dass wir jetzt in Montu sind. Da kann ich ihn auch fragen, ob die Polizei schon eine Spur hat oder so.“
"Entweder das oder sie hat ihrem Vater gesagt, dass die Sache mit Riccardo nichst Ernstes ist", gab Ethan zu bedenken. "Aber darüber hat sie mir tatsächlich nichts erzählt." Anschließend nickte Ethan. "Gute Idee", stimmte er zu und hielt dann kurz inne, als ihm eine offensichtliche Frage einfiel. "Was sagt dein Vater eigentlich dazu, dass du durch Aventu reist?"