Jakob war doch erstaunt, wie groß das Polizeirevier war. Es war deutlich größer als das in Inito. Als sie am Ende des Ganges angekommen waren, stand dort auch zu Jakobs Überraschung noch ein Polizist Wache. Dieser schien allerdings seinem Ausspruch nach nur dazu da zu sein, den Chief vor Störungen zu schützen. Der Teenager hob erstaunt eine Augenbraue, als der Polizist zu rauchen anfangen wollte. Wenn der Rauchmelder auch noch kaputt war, hatten sie Glück, dass nicht noch jemand im Archiv einen Brand gelegt hatte. Jakob sah kurz zum Kartenlesegerät und dann zu Nick. "Aber das Lesegerät da funktioniert noch, oder?"
Holly musste zugeben, dass das Polizeigebäude von außen nicht so groß gewirkt hatte. Es war offensichtlich, dass hier eigentlich viel mehr Leute arbeiten konnten, aber die Zeit, in der das so gewesen war, war vermutlich schon länger her. Sehr viel länger. Die junge Farmerin konnte sich durchaus vorstellen, dass damals einige Dinge auch wesentlich besser gelaufen wären. "Zum Glück müssen wir nicht lange suchen", kommentierte Lou die Tatsache, dass der Chief im Archiv war, wobei Holy allerdings ein Augenrollen unterdrückte. Sie hatte versprochen, sich zusammenzureißen und das würde sie auch halten. Die Tatsache, dass der Polizist vor ihnen einfach zu rauchen begann, ignorierte sie ebenfalls. Ethan hatte eben schon bewiesen, dass eine Bemerkung nichts brachte und hinzu kam, dass sie ohnehin andere Sorgen hatten. Nichtsdestotrotz lag Holly doch der eine oder andere Kommentar auf der Zunge.
"Ja, das Gerät geht, ist aber heute aus", beantwortete der Polizist die Frage des Idioten. "Wäre sonst zu anstrengend." Er hob die Schultern und zog an seiner Zigarette. Nick seufzte, trat an dem Polizisten vorbei und öffnete die Tür. Ethan folgte ihm in den dahinter liegenden Raum. Dieser war groß und voller Aktenschränke mit Akten und Papieren, die tatsächlich nach irgendeinem System sortiert zu sein schienen. Im Eingangsbereich des Raumes befand sich eine Theke, hinter der eine Polizistin mittleren Alters an einem Computer saß. Sie hob den Blick, als sie eintraten. "Der Chief ist in Gang 47F", sagte sie dann, ohne dass sie jemand gefragt hätte. "Dort sind... oder besser waren die aktuellen Akten."
Jakob fragte sich kurz, ob das Gerät erst jetzt ausgeschaltet worden war oder aber schon den ganzen Tag nicht lief. Immerhin wäre es für den, der das Archiv gelöscht hatte, praktisch gewesen. Der Frau am Archiv nickte er zu. Er fragte sich, ob sie dort immer saß. Wenn dem so wäre, dann war es erstaunlich, dass so etwas passieren konnte. Es hätte doch auffallen müssen, wer das Archiv gelöscht hatte, wenn es den Kartenleser und jemanden im Archiv gab. Der Teenager schüttelte nur den Kopf. Wer immer das getan hatte, war gut gewesen.
Auch Lou fand, dass die ganze Situation seltsam anmutete. Wie war es möglich gewesen, die Akten zu entfernen, wenn man eigentlich nicht einfach das Archiv betreten konnte? Zumindest sah es ihrer Meinung nach so aus. Das Archiv an sich war erstaunlich riesig. Natürlich war dem Mädchen bewusst gewesen, dass hier Akten von vielen Jahren gelagert wurden, aber es zu sehen, war dennoch etwas völlig anderes. "Ähm... Ja, danke", erwiderte Lou ein wenig überrumpelt, als die Polizistin ihnen weiterhalf, ohne dass jemand gefragt hatte. Allein dass es so viele Gänge gab, bewies auch, dass das Archiv gigantisch sein musste. "Hier muss man sich aber auch erst zurecht finden, oder?", bemerkte Holly während sie den Blick schweifen ließ. Lou musste ihrer Begleiterin recht geben, auch wenn es offensichtlich ein Sortierungssystem gab. Wer auch immer die Akten entfernt hatte, musste gewusst haben, was er tat.
"Oh, das ist ganz einfach", bemerkte Nick mit einem Lächeln. "Die erste Zeit verbringen wir Rekruten immer hier, wisst ihr? Deshalb ist es so sortiert." Er hob die Schultern. "Wir müssen da lang." Sie setzten sich erneut in Bewegung und liefen an diversen Regalen voller Akten vorbei. "Ist die Frau immer am Eingang?", fragte Ethan nach. "Ja", erwiderte Nick. "Das... das macht es noch seltsamer, oder?" Das machte es vor allem wahrscheinlich, dass sie entweder Teil der Sache gewesen war oder zumindest ihren Posten verlassen hatte. Ansonsten hätte es längst Anhaltspunkte gegeben. Die einzige denkbare Alternative war es, dass irgndwer beteiligt war, der der Frau befehlen konnte, nichts zu sagen. Und das traf vermutlich nur auf die Captains und den Chief zu. "Mir gefällt das alles nicht", fügte Ethan hinzu. "Der Raub war zu perfekt."
Jakob nickte Ethan zustimmend zu. Der Courtenay sprach das aus, was er sich bisher gedacht hatte. "Ja, das ist sehr seltsam. Man müsste doch eigentlich wissen, wer im Archiv war. Ich glaube sogar mal gehört zu haben, dass diese Geräte speichern können, welche Karte benutzt worden ist." Jakob seufzte. Es war unerklärlich, wie so etwas geschehen konnte und der Täter noch herumlief. Seiner Meinung nach war das für einen Außenstehenden unmöglich. Also bleib eigentlich nur noch die Möglichkeit, dass es ein Rotomurf in der Polizei geben musste.
"Seltsam ist gar kein Ausdruck", meinte Holly und Lou nickte zustimmend. "Und ich schließe mich an: Mir gefällt das auch nicht." "Bin ich auch dabei", ergänzte Lou und ließ nochmal den Blick schweifen. "Wie viele Rekruten gibt es eigentlich? So riesig wie das hier ist, muss es doch ein Heidenaufwand sein hier zu arbeiten." Außerdem war es ihrer Meinung nach auch denkbar, dass von den Rekruten jemand involviert war, wenn es tatsächlich ein Rotomurf gab. Bisher kannten sie nur Nick und Charly und irgendwie traute Lou es keinem von beiden zu. Charly war schlicht zu dumm und Nick... Nick war eindeutig zu unsicher für so eine Aktion.
"Na ja, wisst ihr, aktuell sind es nicht mehr so viele", antwortete Nick mit einem hilflosen Schulterzucken. "Ich glaube, wir sind nur noch achtundzwanzig in ganz Litora." Er schien kurz die Nummerierungsschilder an den Regalen zu mustern und bog ein paar Regale weiter links ab. "Ihr seid nur achtundzwanzig und kennt euch untereinander nicht?", hakte Ethan skeptisch nach. "Oh, wegen... wegen der Rekrutin am Eingang?", fragte Nick und schüttelte den Kopf. "Wir kennen die, die zusammen mit uns angefangen haben. Ich glaube, sie ist schon länger dabei."
Jakob überlegte kurz. Achtundzwanzig waren nun wirklich nicht sehr viele. Es würde also umso mehr auffallen, wenn jemand in naher Zukunft verschwinden würde. Nein, eigentlich nicht, dachte Jakob sich dann. Johnsons Verschwinden war auch nicht aufgefallen und der Organisation traute er eine derartige Dreistigkeit zu, dass das Rotomurf einfach da bleiben würde. Dann schüttelte er den Kopf, als das Gespräch wieder auf Charly fiel. "Bei ihr wundert es mich eher, dass sie immer noch dabei ist... Immerhin ist sie ja daran schuld, dass niemand da war, um ans Telefon zu gehen, als die Karpador-Zucht überfallen wurde."
"Mich wundert so langsam gar nichts mehr", meinte Holly und seufzte leicht. "Aber achtundzwanzig sind für so eine große Stadt echt nicht viele." "Ich bin erstaunt, dass ihr euch nicht so gut kennt. Begegnet ihr euch nicht bei der Arbeit oder Unterricht oder meinetwegen auch Training? Ich hätte da jetzt mit mehr... Durchmischung gerechnet", gab Lou zu und wirkte ein wenig verwundert. "Wie lange ist man eigentlich Rekrut?", fragte sie junge Farmerin stattdessen nach. "Wenn sie schon länger dabei ist, müsste sie dann nicht theoretisch, und ich betone hier theoretisch, in absehbarer Zeit fertig sein?"
"Drei Jahre", antwortete Nick. "Ich bin in meinem ersten. Also... na ja, deswegen kenne ich nicht viele. Die älteren Rekruten haben einen anderen Zeitplan. Deswegen sieht man sie selten. Wir... wir sind übrigens gleich da." Ethan nahm das als Aufforderung, derartige Gespräche einzustellen - und das obwohl er bezweifelte, dass irgendjemand autoritärer sein konnte als Cordes. Letztlich bogen sie in einen weiteren Gang ein, in dem einige Polizisten standen. Derjenige, der anhand seiner Abzeichen deutlich als Chief zu erkennen war, war kaum größer als Ethan, aber mindestens doppelt so breit. Rodriguez war zumindest optisch in den späten Vierzigern, hatte dunkle, kurze Haare, einen sorgsam gestutzten Schnäuzer und einen stechenden, unfreundlichen Blick. "Chief", sprach Nick ihn an und salutierte. Der Chief musterte ihn kurz, dann richtete er seinen Blick auf die Freiwilligen. "Wer ist das, Hughes?", fragte er mit einer Stimme, deren unfreundlicher Grundton zu ihm passte. "Die Freiwilligen, Chief", antwortete Nick hastig.
Jakob nickte kurz, bevor sie in den Gang abbogen. Er würde sich ruhig verhalten und keine Verschwörungstheorien ansprechen. Chief Rodriguez war definitiv anders, als er sich das vorgestellt hatte. Er konnte sich kaum vorstellen, dass ein Mann dieser Statur oft draußen war und deswegen konnte Jakob ihn auch nur bedingt ernst nehmen, allerdings riet ihm der unfreundliche Ton und die Tatsache, dass er immer noch ein Chief war, zur Vorsicht. Immerhin schaffte er es, einen neutralen Blick zu bewahren und salutierte. Jakob wich dem Blick des Chiefs aus, indem er geradeaus über den Kopf des kleinen und breiten Mannes hinwegblickte.
Holly hatte eigentlich vorgehabt, Nick noch einmal zu antworten, aber dann hatten sie ihr Ziel schon erreicht. Der Chief klang unfreundlich, aber das störte die junge Farmerin wenig, immerhin kannte sie das von Cordes. Außerdem wusste er offensichtlich wer Nick war und für Holly bedeutete das, dass er zumindest weitestgehend einen Überblick über seine Leute zu haben schien. Normalerweise hätte sie in dieser Situation etwas gesagt, aber da sie den anderen zugesichert hatte, ließ sie es lieber und blieb einfach still. Wenn Jakob der Meinung war, salutieren zu müssen, dann war das seine Sache. Sie würde sich die Geste definitiv sparen.
Lou:
Der Chief von Litora entpuppte sich als kleiner, stämmiger Mann und war damit ganz anders als Lou erwartet hatte. Er schien ziemlich unfreundlich zu sein, aber in Anbetracht der aktuellen Situation war das vermutlich kein Wunder. Immerhin waren wichtige Akten entwendet worden und es stand der Verdacht im Raum, dass es ein Rotomurf in den Reihen der Polizei gab. Lou selbst hielt sich für den Moment allerdings lieber zurück. Sie hoffte einfach, dass dem Chief die Aussage reichte, dass sie die Freiwilligen waren und dass er die Gruppe nicht gleich wieder wegschickte. Es musste doch etwas geben, wo auch sie helfen konnten.
"Polizisten salutieren, Freiwillige nicht", kommentierte Rodriguez die Geste des Idioten. "Ausweise." Ethan griff nach seinem Freiwilligenausweis und hielt gab ihn dem Chief. Dieser musterte den Ausweis kurz. "Courtenay", stellte er dann fest und klang verächtlich. "Ist das ein schlechter Scherz?" "Nein", erwiderte Ethan vielleicht eine Spur zu kühl. "Manchmal frage ich mich, was in Cordes' Kopf vorgeht", fügte Rodriguez hinzu, während er Ethan den Ausweis zurückgab. "Ob überhaupt etwas darin vorgeht." Er sah zu den anderen. "Ausweise. Jetzt."