Von dem Gang zweigten insgesamt drei Türen ab, allesamt waren mit Kartenlesegeräten ausgestattet und wegen des Stromausfalls höchstwahrscheinlich verschlossen. Immerhin waren sie ebenfalls beschriftet und im flackernden Licht von Pyroleos Flamme konnte Ethan die Beschriftungen "OP", Lager" und "Quarantäne" ausmachen. Cordes schien sich für den Raum mit dem Begriff "Lager" entschieden zu haben, denn sie sah zu Magniro und deutete zu der entsprechenden Tür. Dieser gab den stummen Befehl an sein Sumpex weiter, dem es ohne größere Probleme auch gelang, diese Tür zu öffnen. Das Pyroleo trat zuerst ein, um für Licht zu sorgen. Der Raum war sehr groß und durch eine Trennwand in zwei Bereiche unterteilt: Einer enthielt eine schier endlose Menge an Käfigen, Aquarien und anderen Unterbringungsmöglichkeiten, die allesamt leer waren. Der zweite Bereich schien irgendwelche Kühlvorrichtungen zu beinhalten, die aber allesamt geöffnet und offensichtlich ausgeschaltet waren. Sie waren zwar beschriftet, doch die Beschriftungen bestanden aus irgendwelchen Buchstaben- und Zahlenreihen, die vermutlich irgendein Sortierungssystem darstellten.
Jakob schaute sich um und bei dem Anblick der Käfige und Aquarien musste er tatsächlich schaudern. Dadurch, dass hier alles leer war, schein seine Phantasie ihm die schlimmsten Dinge vorzuspielen, was hier mit den ganzen gestohlenen Pokémon passiert war. Der Teenager begann sich mulmig zu fühlen und langsam aber sicher wich die Farbe aus seinem Gesicht. Egal, wie der weitere Plan auch sein mochte, er wusste, dass er mit dieser Organisation nichts zu tun haben wollte und bereute es, jemals dort angerufen zu haben.
Die Umgebung wurde zunehmend unheimlicher, selbst in Hollys Augen. Hinzu kam, dass das flackernde Licht des Feuers nicht gerade dazu beitrug, die Atmosphäre irgendwie angenehmer zu machen. Lou schauderte kurz. Allein die Vorstellung, was hier passiert war, ließ ihr übel werden. "Bei Arceus...", entwich es dem Mädchen unwillkürlich. Es fühlte sich so surreal an, aber es war echt. Sie waren hier und liefen durch dieses Gebäude, das wahrscheinlich noch weitere, furchtbare Geheimnisse für sie alle bereit hielt.
"Wenn wir nachher in den Büros und Archiven waren, lassen sich diese Codes mit Sicherheit entziffern", merkte Baker an, der näher zu den Kühlvorrichtungen getreten war. "Aber alles andere..." Er sah sich prüfend um. "Alles andere scheinen sie mitgenommen oder entsorgt zu haben." "Sie können sich später darum kümmern", erwiderte Cordes und verließ den großen Raum wieder, um in den Gang zurückzutreten. "OP." Auf ein kurzes Zeichen von Magniro hin öffnete sein Sumpex die nächste Tür, die knirschend nachgab. Als das Pyroleo den dahinter liegenden Raum erhellte, wurden zwei kleine, komplett von Glaswänden umgebene OP-Bereiche sichtbar. Beide wiesen einen OP-Tisch und diverse Gerätschaften auf. Ethan glaubte, Beatmungsgeräte und Monitore zu erkennen und ging davon aus, dass es sich um Geräte zur Aufrechtheraltug und Überwachung von Narkosen handelte.
Jakob atmete tief ein. Das sah mittlerweile so aus, wie in einem der Psycho-Horror Filme, die er sich mit seinen Schulkameraden zusammen angesehen hatte. Damals hatte ihm das nicht sehr viel ausgemacht, aber das hier war anders, das hier war sehr real. Durch die Kafige hatte er Abscheu empfunden, hier dagegen empfand er deutliches Unbehagen. "Das ist jetzt die Bestätigung... die... machen definitiv medizinische Forschungen hier."
"Eindeutig...", bestätigte Holly Jakobs Aussage. Für eine sarkastische Antwort war ihr definitv zu schlecht. Unter anderen Umständen hätte es ihr nichts ausgemacht, an diesem Ort zu sein, aber mit all dem Hintergrundwissen, war ihr einfach nur speiübel. "Das ist einfach nur krank..." Lou nickte nur zustimmend. Das sogenannte Lager war ihr schon auf den Magen geschlagen, aber der Anblick dieses OPs schnürte ihr regelrecht den Hals zu. Das was hier passiert war, war keine normale Forschung gewesen. Sie hatte im Geheimen stattgefunden, weil die Pokémon gelitten hatten... Wie sehr konnte man sich nur vorstellen.
"Sehen Sie sich um, Baker", wies Cordes den Captain an, der daraufhin einen der beiden verglasten OP-Räume betrat. Ethan verzichtete darauf, näher heran zu gehen, ihm genügte der Anblick, der sich ihm von der Tür aus bot. Er wollte sich nicht vorstellen, was hier gemacht worden war. Er warf einen Seitenblick zu dem Chief und dem Arenaleiter. Cordes wirkte so unzufrieden wie immer, vielleicht sogar noch eine Spur mehr, während Magniros Gesicht von eindeutiger Missbilligung dominiert wurde. Nach einer Weile, in der unangenehmes Schweigen geherrscht hatte, kehrte Baker aus dem ersten OP zurück. "Irgendwer hat sich die Mühe gemacht, aufzuräumen. Die Gerätschaften sind zwar noch da, aber ansonste nichts - keine Medikamente, keine anderen Stoffe, ich habe nicht die leiseste Ahnung, was hier gemacht wurde", fasste er dann zusammen. "Allerdings sehen die Geräte durchaus veraltet aus, vielleicht ist das der Grund, warum sie das Labor aufgegeben haben. Vermutlich haben sie irgendwo andere, die deutlich moderner sind." "Was sind das für Geräte?", hakte Cordes nach. "Ich bin kein Arzt", antwortete Baker entschuldigend, "aber ich erkenne Überwachungsgeräte für Herzschlag und Atemfrequenz, außerdem Beatmungsmaschinen. Außerdem waren da eine Menge Skalpelle und Spritzen, auch einige kleinere Sägen - allerdings keine großen Operationsgeräte, ich nehme also an, dass eher kleine Eingriffe durchgeführt wurden."
Jakob schüttelte sich, als Baker aufzählte, was hier alles vorhanden war. Einerseits war es nicht verwunderlich solche Dinge in einem OP zu finden, aber andererseits war das ja auch kein normaler OP. Jakob war auf jeden Fall klar, dass er hier genug gesehen hatte. Gedanklich wappnete er sich, im verbliebenem Raum, der Quarantäne, weitere tote Pokémon zu sehen, als er sich angewidert abwandte und auf den Gang zurück trat.
Holly verkniff sich die Bemerkung, dass man kein großes Gerät brauchte, um viel Schaden oder viele Schmerzen anzurichten. Es half nichts, würde die aktuelle Situation vermutlich noch unangenehmer machen und von der allgemeinen Stimmung wollte Holly gar nicht erst anfangen. Hätte Lou ihre Stimme in diesem Moment gefunden, hätte sie ihre Aussage von zuvor korrigiert. Das Lager war nur abstoßend, der OP und alles, was vermutlich darin passiert war, das war krank. Krank und wahnsinnig. Und das Schlimmste war, dass immer noch niemand sagen konnte, wofür das Ganze eigentlich stattfand. Nicht, dass es eine Rechtfertigung gab, aber die Sinnlosigkeit wurde durch den fehlenden Grund nur noch verstärkt.
Cordes deutete ein Nicken an und schien damit den Lagebericht für den Moment abzuschließen. Dann wandte auch sie sich ab und verließ mit einer mehr als düsteren Miene den Raum. Sie musste nichts sagen, Magniros Sumpex befasste sich von selbst mit der letzten Tür, die schon nach einem einzigen, wuchtigen Angriff des Wasser-Pokémons nachgab. Erneut ging das Pyroleo vor. Der letzte Raum in diesem Gebäudeteil war nach Ethans Schätzung etwa so groß wie das Lager. Auch hier fanden sich diverse Käfige und Aquarien, aber schon als das Pyroleo die ersten Schritte in den Raum hinein machte, wurde deutlich, dass diese nicht leer waren. Ethan wurde schlecht, als er die reglosen Gestalten von Pokémon bemerkte, die sich dort befanden und selbst Cordes schien keine Worte dafür zu finden. In einigen Aquarien in Türnähe befanden sich die restlichen Karpador, die allesamt an der Wasseroberfläche trieben. Dank des flackernden Lichtes konnte Ethan die restlichen Pokémon glücklicherweise kaum erkennen und er versuchte es auch gar nicht erst.
Ein kurzer Blick in den Raum zeigte Jakob, dass er nicht mehr sehen wollte. Die Umrisse der regungslosen Körper waren ihm ein wenig zu viel und er stellte sich neben die Tür und lehnte sich kopfschüttelnd an die Wand. Er nahm ein paar Atemzüge um sich zu beruhigen. "Wenn es hier schon so aussieht... ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie schlimm es da ist, wo die anderen Karpador gelandet sind."
Holly starrte die Karpador an, konnte nicht fassen, was sie sah oder was dieser Raum überhaupt war. Ihr Blick blieb auf den Pokémon fixiert, während ihr Hirn gerade verarbeitete, dass es in den anderen Käfigen ähnlich aussehen musste. Das war das Schicksal, das vermutlich die vielen anderen Pokémon, die gestohlen worden waren, ebenfalls ereilt hatte oder noch immer ereilen würde, wenn sie die anderen Labore erreichten. Holly war schlecht. Sie hatte einen schalen Geschmack im Mund und für einen Augenblick befürchtete sie wirklich, ihren Mageninhalt auf dem Fußboden zu verteilen, weil ihre Vorstellung sie darauf Aufmerksam gemacht hatte, dass das wohl das Schicksal der Voltilamm sein würde, wenn ihr Zuhause überfallen werden sollte. "Das... das sind so viele...", durchbrach Lou die Stille, wobei sie sich nicht nur auf die Karpador bezog. Ihre Stimme zitterte und war kaum mehr als ein zu laut geratenes Flüstern. "Haben... haben die... sie zum sterben hiergelassen...?" Das konnte nicht sein. So grausam konnte doch niemand sein!
"Ich nehme an, dass das, was auch immer sie machen, keine große Überlebenschance mit sich bringt", stellte Baker fest und klang dabei auf Ethan deutlich weniger souverän als bisher. "Das ist abartig", kommentierte Magniro und klang dabei hasserfüllt. "Mehr als das." Ethan atmete tief durch, versuchte irgendwie zu verarbeiten, was er sah, aber das war kaum möglich. "Ich denke, wir müssen uns hier nicht weiter umsehen", sagte Cordes letztlich, aber selbst ihre Stimme klang belegt. "Wir sollten nachher einige Pokémon mitnehmen, um herauszufinden, was mit ihnen gemacht wurde." Baker nickte stumm, aber in diesem Moment bellte das Fukano. Ethan zuckte zusammen, weil er mit dem in der Stille des Labors lauten Geräusch nicht gerechnet hatte. Dann trottete das Fukano zu einer der Käfigreihen und schnüffelte. Baker folgte seinem Pokémon sichtlich widerstrebend. "Hier... scheint eines überlebt zu haben", stellte er dann fest. Cordes trat zu ihm und schüttelte den Kopf. "Bis wir in einem Pokémon-Center sind, ist es tot." Trotz der nüchtenen Aussage hörte selbst Ethan Wut und vielleicht sogar Betroffenheit (SL: Lou könnte Letzteres bestätigen) aus Cordes' Stimme heraus. Allerdings konnte er sich nicht dazu bringen, weiter in diesem Raum hinein zu gehen.
Jakob blickte wieder zur Tür, als das Fukano bellte. Großartig, ihm war schon ein wenig mulmig zumute, als er daran dachte, dass eines der Pokémon überlebt hatte. Er nahm seinen Mut zusammen und trat nun doch durch die Tür, versuchte nicht zu sehr auf die ganzen Käfige zu achten, als er zu Cordes ging. "Da finden wir schon einen Überlebenden... und dann... sowas? Das ist schon etwas... niederschlagend. Diese Typen sind echt krank!"
"Aber... aber...", began Lou fassungslos. Cordes selber war von der Situation angeschlagen, weshalb Lou nicht verstand, wie sie so etwas sagen konnte. "Es hat zwei Tage überlebt! Wieso sollte es nicht den Weg bis zum Pokémon-Center überstehen?" Dem Mädchen fiel auf, dass sich seine Stimme fast überschlug, aber Lou konnte und wollte das Pokémon, was auch immer es war, nicht einfach dort im Käfig lassen. "Lou... der Weg allein ist... ist wahrscheinlich zu stressig", meinte Holly mit belegter Stimme. Ihr gefiel es auch nicht, aber manchmal musste man einsehen, wenn man nichts mehr tun konnte. "Wenn wir nichts tun, stirbt es ganz sicher! Wo sind wir denn besser als... als die, die das hier gemacht haben, wenn wir es nicht mal versuchen? Wie wollen wir irgendwas erreichen, wenn wir nichts tun, wenn wir die Chance haben?", erwiderte Lou hektisch, während ihre Stimme nun endgültig zu brechen drohte. Das Mädchen wischte sich über die Augen. Das war nicht wahr! Das war doch alles nicht wahr! Sie konnten doch nicht tatenlos bleiben! Sie waren doch hergekommen, gerade weil sie etwas tun wollten! Zumindest gelang es Lou, sich aus ihrer Starre zu lösen und schließlich zu Captain Baker und seinem Fukano zu treten, bevor sie ihren Blick schließlich in den Käfig richtete.